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Prolog

Die Tür des Schulbusses öffnete sich endlos langsam. Am liebsten hätte Cleo sie eigenhändig auseinander gedrückt nur um diesem ekelhaften Busmief zu entkommen.

Jetzt im Sommer war die Busfahrt jedes Mal eine einzige Qual. Voll, stickig und heiß wie eine Sauna, kurz gesagt, einfach nur eklig.

Endlich konnte sie die Stufen in die rettende Freiheit hinuntersteigen und landete mit einem Sprung auf dem Gehsteig. Mitten in der prallen Nachmittagssonne, die sogar die Luft flirren ließ, als stünde man mitten in der Wüste. Der Bus fuhr an und tuckerte die gerade, leere Straße entlang davon.

Cleo ließ ihren Blick über die perfekt gepflegten Vorgärten mit den immer gleichen Kieswegen und Auffahrten, den weißen Holzzäunen und getrimmten Hecken schweifen.

Hier tanzte man nicht aus der Reihe. Zumindest nach außen musste alles perfekt und harmonisch wirken, was sich hinter den verschlossenen Türen abspielte interessierte niemanden. So lange man davon nichts mitbekam.

Heuchler. Cleo trat einen vergessenen Kieselstein zur Seite. Bevor sie, wie meistens, die verbotene Abkürzung über den Rasen der Nachbarn nahm.

Zur Zeit ließen die Leute ihre Sprinkleranlagen praktisch den ganzen Tag laufen, um ihre kostbaren englischen Rasen vor dem Vertrocknen zu schützen.

Sie warf lächelnd den Kopf zurück und breitete ihre Arme aus, als der herrlich kalte Nieselregen auf ihre erhitzte Haut traf. Ihre Brustwarzen begannen zu prickeln und drängten sich in den leichten Stoff ihres Shirts, das allmählich klamm wurde.

Sie blieb nur einen kurzen Moment stehen, um die Abkühlung zu genießen, denn man wusste nie, wer da hinter den riesigen Glasfronten spionierte und wenn sie erwischt wurde, konnte das sehr ungemütlich werden.

Ihre Mom war ja ohnehin nie gut auf sie zu sprechen, deshalb war es eine schlechte Idee ihr einen zusätzlichen Grund für ihre Launen zu liefern. Also riss sie sich wohl oder übel vom kühlen Nass los und sprintete kichernd die letzten drei Meter über den Rasen.

Als sie das großzügige Penthouse mit der gleißend hellen Fassade erreichte, warf sie zuerst einen Blick auf die Einfahrt. Kein Wagen.

Sie atmete erleichtert auf.

Schnell ging sie zur Haustür, nahm den schweren Rucksack von ihrer verschwitzten Schulter und zog den Reißverschluss des vorderen Faches auf.

Ungeduldig kramte sie nach dem Schlüsselbund, das unter all dem andere Krimskrams den sie immer in dieses Fach stopfte, natürlich bis nach ganz unten gerutscht war.

Schließlich fanden ihre tastenden Finger den Schlüsselanhänger, ein rosa Plüschhäschen mit schwarzen Knopfaugen, das seine besten Zeiten bereits hinter sich hatte und mit den grauen Flecken und dem abgewetzten Schlappohr immer ein bisschen anklagend aussah. Mr. Hops, wie sie ihn in der ersten Klasse getauft hatte, war ein Geschenk ihrer besten Freundin gewesen, die inzwischen mit ihrer Familie in eine andere Stadt gezogen war. Also blieb Mr. Hops an seinem Platz. Mit einem Ruck zog sie das Schlüsselbund hervor und schloss endlich die Tür auf.

Herrlich kühle Luft strömte ihr entgegen, als sie die sonnendurchflutete Veranda betrat. Eine Klima war inzwischen wirklich Gold wert.

Sie ließ den schweren Rucksack achtlos von ihrer schmalen Schulter rutschen, sodass er mit einem dumpfen Knall auf den Fliesenboden landete.

Ihr ganzer Rücken fühlte sich verspannt an und sie streckte sich ausgiebig. Ihre schwere Lockenmähne, die in einer dunklen Flut über ihren Rücken floss, machte es nicht besser.

Jetzt im Sommer waren ihre langen, dicken Haare so sehr sie sie auch liebte manchmal eine echte Tortur.

Sie fasste sie mit ihren Händen zusammen, die fast zu klein dafür waren und hob sie etwas an. Sofort spürte sie die angenehme Kühle durch den klammen Stoff.

Eigentlich liebte sie die Sonne, sie war schon immer ein Sommerkind gewesen. Das warme, helle Strahlen der Sonne machte sie glücklich. Es half ihr ihre quälenden Gedanken und ihr schlechtes Gewissen zumindest zeitweise zu verdrängen. Und außerdem konnte man nach draußen flüchten, weg von der bedrückenden Stimmung im Haus.

Aber diese extreme Hitze vermieste ihr das immer öfter. Manchmal hielt man es nicht mal am Wasser aus.

Mit einem Seufzen ließ sie ihr Haar wieder über ihren Rücken fallen. Egal! Jetzt war Freizeit angesagt und sie hatte vor diese ausgiebig zu nutzen... einfach tun worauf man Lust hatte und danach eine endlos lange Clubnacht... das konnte ihr nichts und niemand vermiesen. Schließlich war Freitag, was bedeutete, dass sie keine ätzenden Hausaufgaben zu erledigen hatte. Und da sie allein war würde sie den Rest des Nachmittags herrlich faul am Pool verbringen.

Wenn man mitten im Abi steckte war man froh über jedes bisschen Freizeit. Denn die Zwölfte war wirklich anstrengend.

Ständig musste man irgendwelche Hausarbeiten schreiben oder für Prüfungen lernen.

Sie ging zwar gern zur Schule, aber seit Neuestem ging ihr die ständige Paukerei tatsächlich auf die Nerven, was definitiv vor allem an der Hitze lag. Oder an ihm... Flüsterte eine boshafte Stimme in ihrem Kopf und sie runzelte kurz die glatte Stirn.

Im Wandspiegel, direkt gegenüber des Schuhschranks, der mit seinem Umfang die Hälfte der Veranda einnahm, weil ihre Mom eine Art Schuhfetisch entwickelt hatte, warf sie sich einen kurzen Blick zu.

Das hellgraue, eigentlich viel zu weite Shirt klebte noch immer an ihrer Haut und betonte ihre schmale Silhouette. Ein übertrieben großer Smiley in leicht verwaschenem Sonnengelb prangte darauf und lächelte breit.

Unter dem losen Saum des Shirts lugte ihre rosa Shorts hervor, die mit dem Violett ihres Rucksacks konkurrierte. Nicht besonders stylisch oder sexy, wenn es nach ihren Freundinnen ging, aber deren Kommentare waren ihr egal. Was wussten die schon. Sie mochte es eben locker und bequem. Zumindest im Alltag.

Lächelnd zuckte sie mit den Schultern, bevor sie sich abwandte und strich sich ein paar widerspenstige Locken hinters Ohr zurück. Mit einer linkischen Bewegung ihrer Zehen schlüpfte sie aus ihren Lieblingsschuhen. Ein Paar ziemlich lädierte Chucks in staubgrau, die vor einer Ewigkeit einmal hellrosa gewesen waren. Aber sie waren einfach zu bequem um sich von ihnen zu trennen. Sie kickte sie mit dem Fuß an die Seite, bevor sie auf ihren Söckchen in den Flur tappte.

Er wirkte selbst an einem sonnigen Sommernachmittag düster und das einzige Licht kam entweder aus dem Durchgang zum Wohnzimmer oder von der integrierten Deckenbeleuchtung. Da hatte ihre Mom – Mrs. Oberarchitektin – echt Mist gebaut...

Sie hasste diesen Flur, der sie an einen engen Tunnel erinnerte.

Als sie am Durchgang zum Wohnbereich vorbeikam stieg ihr der Geruch von kalter Pizza

in die Nase und ihr Magen zog sich sofort nervös zusammen. Denn sie verband instinktiv eine düstere Ahnung damit.

„Mami?“, ihre Stimme klang flehend.

Bitte lass es Mom sein, betete sie zu irgendeinem Gott und der Druck in ihrem Magen dehnte sich unangenehm aus. Ihre Muskeln spannten sich an und ihre Finger zupften nervös am ausgeleierten Saum ihres T-Shirts.

„Sie ist nicht da, Kleines“, es war seine Stimme.

Etwas in ihr zerbrach klirrend. Cleo spürte, das Adrenalin, das sofort, wie grelles Licht ihren Körper flutete. Ihr Herz ließ das Blut durch ihre Adern rauschen. Sie konnte das Pochen plötzlich bis zu ihren Ohren hinauf hören.

Sie wollte sich abwenden, zur Tür zurückrennen, doch sie stand wie versteinert, konnte nur auf das helle Rechteck starren, das in den Wohnbereich führte aus dem seine Stimme zu ihr herüber geklungen war.

Aber da gab es etwas in ihr, das noch gefährlicher war als er, weil es zu ihr selbst gehörte und man vor sich selbst nicht davonlaufen konnte. Ein Splitter ihres Bewusstseins, der wollte, dass sie blieb und auf ihn wartete.

Im nächsten Moment trat er in ihr Blickfeld, erschreckend schön und auf gewisse Weise gleichzeitig abstoßend in seiner überwältigenden Größe, mit der er sich vor ihr aufbaute. Die rechte Schulter lässig gegen die Seite des Durchgangs gestützt in seinem schwarzen Muskelshirt und der lässigen Jeans im Usedlook. Die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

Unter der sonnengebräunten, straff gespannten Haut konnte sie das Zucken seiner Muskeln sehen und sie schluckte schwer gegen den dicken Kloß in ihrer Kehle an, der auf einmal aus dem Nichts darin feststeckte.

Seine dunkelblauen Augen, die sie an einen tiefen Bergsee erinnerten, mit den dunkelgrünen Sprenkeln darin, die besonders im Sonnenlicht auffielen, wie sie wusste, beobachteten jede Regung in ihrem Gesicht. Sie konnte sehen das er die weichen, vollen Konturen ihrer Lippen entlangfuhr, bevor er an ihrem schmalen Hals nach unten glitt und sich an den unscheinbaren Hügeln ihrer Brüste verfing, die sich unter dem losen Stoff des Shirts verloren.

Ihre Wangen begannen gegen ihren Willen zu glühen und sie senkte ihren Kopf, um dieses verräterische Zeichen ihres Körpers vor ihm zu verbergen. Doch sie konnte das wissende Grinsen auf seinen Lippen geradezu spüren.

Cleo kannte längst jeden Ausdruck seines Gesichts, das sie viel zu oft heimlich beobachtet hatte.

Sie kannte die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln, die sich verstärkten, wenn er lächelte, die goldglänzenden Bartstoppeln seines Dreitagebartes, genauso, wie den stählernen Ausdruck in seinen Augen, wenn er wütend wurde.

Er sagte nichts, beobachtete sie einfach nur, schien abzuwarten, wie sie reagieren würde.

Cleo schluckte weiter gegen den Kloß an, der ihr den Atem zu rauben schien, in ihrem Kopf suchte sie nach irgendwelchen Worten, die sie aus dieser unerträglichen Situation befreien konnten.

„Ich wollte nur etwas holen“, ihre Stimme klang blechern, unecht und sie spürte genau, dass er ihr kein Wort glaubte. „Ist das so?“, sein Blick erreichte wieder ihre Augen, bohrte sich hinein und sie musste ihn erwidern, konnte sich nicht widersetzen.

Ihre Augen flackerten verräterisch. Trotzdem musste sie versuchen ihn zu überzeugen.

„Ich bin mit einer Freundin verabredet“, brachte sie hervor und konnte das Beben in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

Plötzlich schoss er vor, so schnell, dass sie, als sie versuchte zurückzuweichen, fast über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Doch die Wand hinter ihr fing sie auf. Sie spürte den groben Putz in ihrem Rücken, der durch den dünnen Stoff des Shirts über ihre Haut kratzte und sie sanft brennen ließ.

Seine linke Hand legte sich neben ihrem Kopf an die Wand, keilte sie ein und schnitt sie somit vom rettenden Ausgang ab. Er war ihr jetzt nah, viel zu nah. Sein dunkler, herber Duft vermischt mit irgendeinem Parfum hüllte sie ein und sie atmete wie von selbst tiefer, als hätte sie die Kontrolle über ihren Körper verloren. Ihr Herz hämmerte wie wild gegen ihre Rippen, pumpte frisches Adrenalin durch ihre Adern. Wäre die Wand nicht gewesen, hätte sie vielleicht den Halt verloren, während sein bohrender Blick sich in ihre Augen grub.

„Ich schätze deine Freundin wird warten müssen“, raunte er in ihr Ohr und seine Stimme klang wie Sandpapier.

Sie vibrierte durch ihren Bauch und ließ ein dumpfes Brennen zwischen ihren Schenkeln zurück. Und sie wusste, sie musste jetzt puterrot aussehen, weil sie sich so sehr für diese Reaktion schämte. Denn es war verrückt, dass sie so empfand und sie konnte sich nur dafür hassen, dass sie es nicht schaffte sich zu wehren und sich ihm zu entziehen.

„Ben, bitte, wenn Mom nach Hause kommt“, „Sie wird nicht vor sechs zurückkommen. Wir haben Zeit, Kleines, viel Zeit“, Worte, die ihr eine Gänsehaut machten und ihr das Gefühl gaben von innen zu erfrieren.

Sie spürte seinen Blick auf sich, wie glühendes Eisen, das sich in ihre Haut brannte ohne Spuren zu hinterlassen. Denn die Wunden brannten sich dort ein, wo sie niemand sehen konnte. Dort, wo sie mit sich allein war und niemand ihre stummen Schreie hörte, wenn sie an dem verzweifelte was sie fühlte und nicht verstand. Wenn sie daran verzweifelte, dass er diese Gefühle auf barbarische Weise ausnutzte und damit spielte, weil es ihn einen Dreck scherte, was andere fühlten. Und trotzdem, trotzdem hing sie in seinen Fäden, wie ein hilflos zappelnder Schmetterling im Netz einer siegessicheren Spinne.

„Beruhige dich, Kleines“, er strich eine ihrer Locken hinter ihr Ohr zurück, so unerträglich zärtlich, dass es weh tat.

Ihre Wange schmiegte sich wie von selbst in seine warme Hand und er ließ seine Finger darüber streichen, denn er wusste, dass sie sich genau danach sehnte, nach dieser Wärme und Zuneigung.

Obwohl sie sich dafür hasste. Es war ein Hass, der so drückend, so schwer war, dass man ihn nur aushalten konnte, wenn man sich selbst Schmerzen zufügte. Wie eine Art Bestrafung. Erst wenn die Tränen kamen, war es okay, eben so okay, wie es sein konnte.

Die Tränen, die sie dann weinte, waren bitter, wie etwas Giftiges, so giftig, wie das, was sie in ihrem Inneren verschlossen hatte.

„Wir gehen ins Bad“, seine Worte durchschlugen ihre Gedanken, wie ein Steinhagel.

Im nächsten Augenblick umfassten seine kräftigen Finger ihr Handgelenk und er zog sie hinter sich her, in Richtung Badezimmer.

Sie ließ es geschehen, ihr Körper ergab sich ihm, während ihr Verstand in stummer Verzweiflung rebellierte.

Cleo folgte ihm stolpernd, warf einen flehenden Blick über ihre Schulter zurück und sah zu, wie das helle Rechteck, das in das warme Sonnenlicht des Alltags führte, hinter ihr zurückblieb...

***

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