
1 Prinzessinnen
„Miiaaa... , Mia, beeil dich bitte! Wir müssen dich zur Kita bringen und ich hab noch einiges zu tun heute!“, rief Ava ihrer fünfjährigen Tochter zu, die mal wieder in ihrem Zimmer vor ihrem Kleiderschrank herumtrödelte.
„Aber...“, Ava hörte die Kleiderbügel klappern, „ ...aber ich brauche noch mein rotes Kleid!“, rief Mia zurück.
Ava gab auf. Das Haareglätten würde sie wohl erst später schaffen. Hoffentlich noch bevor sie zur Abendschule aufbrechen musste!
Sie ging in das rosa gestrichene Zimmer hinüber, das mit einer Märchenfiguren Tapete verziert war.
Am Fenster, gegenüber der Tür, stand das Bett mit einem passend rosa Betthimmel.
Die weißen Möbel rundeten das Ganze ab. Dieses Zimmer war mit Sicherheit der Traum vieler kleiner Prinzessinnen...
Mia stand mit verwuschelten, dunklen Locken, die ihr inzwischen bis zur Taille reichten, vor dem offenen Kleiderschrank, vor sich einen Haufen verschiedener Kleider verteilt.
Natürlich alles herrlich zerknittert, wie Ava mit einem tiefen Seufzen feststellte.
Mit ein paar Schritten war sie bei ihrer Tochter, die sich mit einem viel zu süßen Schmollmund und großen, leuchtend grauen Kulleraugen zu ihr umwandte.
„Ich hab es nicht gefunden!“, jammerte sie ein klein wenig schuldbewusst.
„Ach Mia!“, Ava ließ ihren Blick über die vielen Kleidchen schweifen, die noch immer auf den Bügeln hingen.
Dann griff sie zielstrebig dazwischen und zog ein rotes, glockenförmig ausgestelltes Kleid mit Puffärmeln hervor.
„Warum hast du mich denn nicht gerufen?“, fragte sie das kleine Mädchen, das jetzt mit strahlendem Lächeln das Kleid in Empfang nahm.
Dann sah sie wieder ihre Mama an.
„Weil du doch im Bad warst..., zum Hübsch machen...“, erklärte sie entschuldigend mit dieser zarten, glockenhellen Stimme, die Avas Herz zum Schmelzen brachte.
Schmunzelnd schüttelte sie den Kopf. Wie sollte sie diesem Kind jemals böse sein?
Ein Blick auf die große Uhr mit rosa Rand, die neben dem Bett an der Wand hing ließ sie zusammenzucken.
„Oh Gott! Jetzt aber schnell! Wir kommen sonst schon wieder zu spät, Mia!“, rief sie erschrocken und begann der Kleinen eilig das weiße Rüschennachthemd über den strubbeligen Haarschopf zu ziehen...
Eine halbe Stunde später, stand sie mit einem Klappbrötchen zwischen den Lippen und einer glücklich lächelnden Mia endlich an der Wohnungstür, ihre Handtasche und Mias Rucksack in der Hand blickt sie noch einmal auf das alltägliche, morgendliche Chaos zurück.
Ok, sie hatten alles, es konnte endlich losgehen!
So schnell sie konnten eilten sie die Treppe vom Zweiten Stock des Mietshauses nach unten.
Der kleine, alte Opel, der eigentlich zu teuer war, stand auf dem gemieteten Parkplatz bereit.
Mia krabbelte sofort auf ihren Platz. Sie wusste sehr genau, dass ihre Mama sich jetzt wirklich beeilen musste, wenn sie nicht wieder von Frau Meier ausgeschimpft werden wollte, die schon ein paar Mal mit dem Frühstück hatte warten müssen...
Ava hatte gerade den letzten Bissen ihres Brötchens heruntergeschluckt, als sie zehn Minuten später vor der Kita Sonnenschein hielten.
„So, Maus,“, meinte sie zu dem kleinen Mädchen mit den inzwischen zu einem süßen Pferdeschwanz frisierten, dunklen Locken, „...wir müssen uns sputen...“, Mia grinste frech.
„So wie jeden Tag...“, meinte die Kleine vorwitzig und brachte Ava damit zum Schmunzeln.
„So wie jeden Tag...“, wiederholte sie bestätigend und half ihrer kleinen Tochter aus dem Kindersitz.
Gemeinsam betraten sie den Umkleideraum, wo bereits eine verärgerte Erzieherin auf sie wartete.
„Frau Enns, das Frühstück hätte vor zehn Minuten beginnen sollen und soweit ich weiß, soll ihre Tochter daran teilnehmen und zwar mit allen anderen Kindern...“, begann die stämmige Frau, die in etwa einen Kopf größer war als Ava.
Was ihr jedes Mal ein bisschen das Gefühl gab, selbst eines der Kinder zu sein.
Die strenge Dame hatte die Hände in die üppigen Hüften gestützt und lugte mit tadelndem Blick über den Rand ihrer Hornbrille auf sie herunter.
„Guten Tag, Frau Albert! Es tut mir wirklich leid! Aber jetzt ist Mia bereit zum Frühstücken!“, erklärte Ava mit strahlendem Lächeln und schloss noch schnell unauffällig den zweiten Klettverschluss an Mias rosa Ballerinahausschuh.
Die ältere Dame seufzte ergeben. „Wie auch immer..., Mia, komm mit, wir gehen zu den anderen frühstücken!“, Mia ergriff die große Hand, die ihr die Kindergärtnerin auffordernd und ein bisschen ungeduldig hinhielt.
„By, Mami...“, rief sie noch mit einem Blick über die Schulter und Ava winkte ihr lächelnd hinterher.
Doch sie konnte den kurzen, schmerzhaften Stich dort wo ihr Herz klopfte nicht unterdrücken.
Es fiel ihr noch immer schwer ihre kleine Tochter in der Kita abzugeben...
Aber sie musste! Immerhin wollte sie sobald wie möglich ihr Fachabi abschließen und dann noch irgendwie ein Studium hinterherschieben. Da blieb vormittags gerade genug Zeit für den Haushalt und die Hausaufgaben und nachmittags fand der Unterricht statt.
Ganz abgesehen von ihrem kleinen Nebenjob, der zwar gutes Geld für Mia und sie einbrachte, aber auf jeden Fall ein wohlgehütetes, schmutziges Geheimnis bleiben musste! Unbedingt!
Allein wegen Mia...
Während Ava zum Wagen zurückging fragte sie sich, wann sie das letzte Mal Zeit für ihre beste Freundin gehabt hatte, die über ein paar schnell gewechselte Worte hinausgegangen war.
Manchmal vermisste sie es heftig einfach mal wieder zu tun was sie wollte. Aber dann schweiften ihre Gedanken zu dem süßen Gesicht mit den kleinen Pausbacken und den großen, grauen Kulleraugen und sie wusste wieder warum sie es nicht tat.
Sie wollte ein gutes Leben für Mia und sich! Nicht vom Amt abhängig sein oder ständig ein paar Minijobs am Tag machen nur um ihrer kleinen Tochter mal einen Wunsch zu erfüllen!
Und ohne solide Ausbildung gab es eben auch keinen einträglichen Job.
„So einfach ist das...“, meinte sie bestätigend zu sich selbst und drehte das Autoradio auf.
Ihr Lieblingsgutelaunesong „La da de“ ließ sie lächeln.
Lauthals fiel sie in den Refrain mit ein, sie konnte weiß Gott nicht singen, aber hier im Auto konnte ihr das egal sein!
*
„Ayden! Aaayyyden...“, der große Blonde zuckte zusammen.
Er wandte sich um und zwei dunkle Smaragde musterten das junge Mädchen mit den langen, gebleichten Locken und den provozierend rot geschminkten Lippen.
„Hast du mich denn nicht gehört?“, meinte sie eingeschnappt und stemmte die Hände in die schmalen Hüften.
Sein Blick verfing sich für den Bruchteil einer Sekunde in dem tiefen, gut gepushten Dekolleté, bevor er in die blauen, mit grünen Sprenkeln durchsetzten Augen sah.
„Kelly..., was gibt’s?“, fragte er und bemühte sich seine Ungeduld zu unterdrücken.
„Ich wollte dich etwas sehr Wichtiges fragen...“, sie zwirbelte die Spitze einer ihrer hellblonden Locken um ihren Zeigefinger, bevor sie ihn mit perfekt eingeübten Wimpernaufschlag ansah.
„Also?“, fragte er und blickte auffordernd auf sie herab.
Er war immerhin über eins neunzig, wodurch die meisten Mädchen ihm geradeso bis zur Brust reichten, was ihn immer ein wenig belustigte...
„Ich hab leider einiges, von dem das der Prof in der Vorlesung gesagt hat nicht so richtig verstanden. Deshalb dachte ich du könntest mir vielleicht ein bisschen Nachhilfe geben...“, ihre Augen sahen flehend zu ihm auf.
Ayden atmete tief durch.
Verdammt, eigentlich hatte er für sowas wirklich keinen Kopf, andererseits war er einer der wenigen Auserwählten, denen das Lernen ungewöhnlich leicht fiel.
Eine der Eigenschaften, die ihm in den Genen lag. Vielleicht die einzig Gute...
„Ok, wir treffen uns morgen Nachmittag in der Mensa und schauen uns den Stoff gemeinsam an.“, schlug er schließlich vor.
Vielleicht würde es ihm ganz gut tun sich von seinen Problemen abzulenken.
Kelly war zwar nicht sein Typ, denn im Gegenteil zu seinen männlichen Freunden, stand er eher auf natürliche Mädchen, aber wenn sie Hilfe brauchte, warum sollte er sie im Stich lassen?
Die vollen, rot bemalten Lippen verzogen sich zu einem strahlenden Lächeln.
„Danke! Das ist echt klasse von dir!“, meinte sie und bevor er sich versah schlang sie ihm ihre langen, schmalen Arme um den Nacken und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Dann ließ sie ihn los, zwinkerte ihm mit geröteten Wangen zu und ging auf ein paar Mädchen zu, die sie sofort in Empfang nahmen und aufgeregt auf sie einredeten.
Ayden betrachtete sie noch einen Augenblick grinsend.
Dann wandte er sich kopfschüttelnd ab und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen.
Zeit nach Hause zu fahren und sich ein..., oder besser gleich ein paar, eisgekühlte Bier zu gönnen!
Allmählich lichtete sich das Unigelände. Die meisten Studenten machten sich in kleinen Gruppen auf den Weg in die umliegenden Cafés um noch ein wenig abzuhängen.
Doch das war nicht sein Ding.
Nicht das seine Kommilitonen nicht oft genug gefragt hätten, aber in dem Punkt war er ein Eigenbrötler. Was nicht zuletzt mit seiner momentanen Situation zu tun hatte.
Ayden holte den Autoschlüssel hervor, drückte auf den Knopf für das elektronische Türschloss.
Eine Erfindung, die ihm eigentlich nicht zusagte, aber das gehörte ja inzwischen zur allgemeinen Ausstattung...
Das altbekannte Piepen erklang und die Türschlösser schnappten auf.
Er öffnete die Fahrertür seines gebrauchten Audi. Ließ sich auf den Fahrersitz sinken.
Ayden brauchte zwei Anläufe um ihn zu starten.
Trotzdem lag ein zufriedenes Grinsen auf seinen Lippen.
Irgendwie machte es Spaß diese alte Karre zu fahren. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt...
*
„Mama! Mama! Wir feiern Fasching und ich will eine Prinzessin sein!“, Mia kam freudestrahlend auf Ava zugerannt.
Die kleinen Arme weit ausgebreitet. Ava beugte sich zu ihr herab und fing sie auf.
„Soso, also eine kleine Prinzessin?“, lächelte sie ihre kleine Tochter an, deren große, graue Augen vor Erwartung leuchteten.
„Ja, und nichts Anderes!“, erklärte sie energisch mit ihrem süßen, hohen Stimmchen.
„Dann muss ich mir wohl was einfallen lassen, meine kleine Prinzessin...“, gab Ava milde lächelnd nach und küsste ihre kleine Tochter auf die erhitzte Stirn.
Wie immer war von dem gebundenen Zopf nicht mehr viel übrig. Einige lange, dunkle Haar hatten sich daraus gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Ava strich sie mit einer liebevollen Geste zurück.
Während sie Mia beim Anziehen half, grübelte sie bereits darüber nach, wie viel so ein Prinzessinnenkostüm kosten würde.
Wie immer hatte sie kaum Reserven und sie wollte Mia auf keinen Fall enttäuschen! Bald waren einige wichtige Rechnungen fällig, selbst dafür saß das wenige Geld schon knapp...
So wie es aussah, würde sie wohl einen zusätzlichen Auftrag annehmen müssen, um ihr ihren großen Wunsch zu erfüllen. Sie seufzte, eigentlich wollte sie diesen „Job“ so selten wie möglich machen, nicht weil er ihr überhaupt nicht gefiel, eher aus moralischen Gründen, aber das Leben war eben kein Wunschkonzert! Erst recht nicht, wenn man alleinerziehend mit einem Kind war und noch nicht einmal das Fachabi in der Tasche hatte...
„Mami?“, Mias graue Augen, mit den langen, schwarzen Wimpern musterten sie fragend.
Ava zwang sich zu lächeln.
„Alles gut, Spatz! Lass uns nach Hause fahren...“, meinte sie aufmunternd.
Da war es wieder, das Gefühl einen Fehler gemacht zu haben. Ihrer kleinen Tochter nicht, so wie die Mütter, die in einer guten Beziehung steckten und einen Job hatten, das bieten zu können, was sie verdient hätte...
Wenn sie nur nicht so früh schwanger geworden wäre!
Sie schlug sich in Gedanken vor die Stirn...
„Dann wäre meine kleine, süße Tochter nie auf die Welt gekommen...“, dachte sie und warf einen Blick in den Rückspiegel.
Mias runde, staunende Augen war auf die vielen Menschen gerichtet, die draußen am Wagenfenster vorbeizogen. Ihre kleinen Pausbacken waren gerötet und eine dunkle Locke fiel ihr über die Schulter. Ava lächelte liebevoll.
Irgendwie musste sie das hinbekommen...
*
Endlich war die letzte Vorlesung an diesem Tag gelaufen!
Ayden atmete seufzend auf. Griff sich seine Tasche und drängte mit den anderen Studenten zur Tür.
„Herr Falkenberg! Kann ich sie noch kurz sprechen?“, die raue, grollende Stimme seines alten Prof`s hielt ihn auf.
Ein wenig genervt trat er ans Pult zurück. Der graubärtige Mann mit den klugen, blauen Augen, die unter buschigen Brauen lagen, musterte ihn amüsiert.
„Immer in Eile, die jungen Leute!“, kommentierte er mit ruhiger Stimme, während er sich dem Hefter vor sich widmete.
„Ich habe mir ihr letztes Referat noch einmal angesehen und festgestellt, dass ihre Leistungen in den letzten Wochen nicht mehr auf demselben Niveau liegen, wie noch im ersten Jahr ihres Studiums...“, meinte der Professor nun und blätterte mit fahrigen Bewegungen durch das, mehrere Seiten umfassende, Werk.
Ayden zuckte nur mit den Schultern. Er verstand nicht, was der Professor von ihm wollte. Er hatte getan, was man von ihm erwartet hatte. Fertig. Alles was er wollte war das Jurastudium schnell und erfolgreich abzuschließen...
„Wissen sie, Ayden, ich werde das Gefühl nicht los, dass sie eigentlich hundert Prozent, vielleicht sogar mehr leisten könnten! Und das, obwohl ein Jurastudium eigentlich ein umfangreiches und durchaus auch anspruchsvolles Studium ist...“, fuhr der Mann in seinem lässigen, gestreiften Hemd fort, das seinen etwas zu üppigen Bauch leidlich kaschierte.
„Worauf wollen sie eigentlich hinaus?“, unterbrach Ayden den Professor, mit den ein wenig wirren Haaren, „Sagen sie es mir doch einfach ins Gesicht damit wir hier fertig werden.“, er blitzte den Älteren herausfordernd an.
Der ignorierte seine Ungeduld beflissentlich.
„Ich weiß natürlich nicht, was der Grund für das Nachlassen ihrer Leistungen ist, aber ich weiß von ihren vorangegangenen Referaten, dass sie genug Fähigkeiten besitzen, um besser zu sein! Mir geht es insbesondere um einen jungen Mann mit einer Auffassungsgabe, die man äußerst selten vorfindet. Es geht darum, dass sie ihr Potenzial richtig nutzen!“, meinte er und sah Ayden mit ernstem Blick an.
In den klaren, blauen Augen lag jetzt ebenfalls etwas Herausforderndes.
„Sie können mehr, als das hier! Das weiß ich. Ich bin mir sicher, sie würden einen hervorragenden Anwalt abgeben. Aber im Moment schöpfen sie nicht aus dem Vollen und das kann sich auf ihre späteren Möglichkeiten auswirken. Ich kann ihnen das nur sagen, was sie daraus machen liegt bei ihnen...“, mit diesen Worten begann er die Blätter zusammenzuklauben und sie zu einem handlichen Stapel zusammen zu klopfen.
Ayden beobachtete ihn noch einen Augenblick irritiert. Dann wandte er sich abrupt ab und ging mit schnellen Schritten in Richtung Tür.
Bevor er auf den Gang hinaustrat, wandte er sich noch einmal zu dem Älteren um.
„Tun sie mir den Gefallen und halten sie sich mit ihren Belehrungen zurück, Professor! Ich möchte ihre Erwartungen ungern enttäuschen, also setzen sie einfach keine in mich...“, meinte er mit zynischem Lächeln, dann war er auf dem Gang.
Im nächsten Moment prallte er heftig mit dem Rücken gegen etwas oder..., jemanden, wie ihm der helle Aufschrei verriet...
Er wandte sich in die Richtung aus der der Schrei erklungen war und entdeckte direkt vor sich ein Mädchen in Shirt und Jeans, mit etwas nachlässig zurückgebundenem Haar, alles in allem recht unscheinbar. Vor den Füßen des Mädchens hatten sich Blöcke, Hefter und Bücher verteilt.
Verdammt! Das hatte ihm noch gefehlt...
Obwohl er spät dran war, bückte er sich und half mit ein paar schnellen Handgriffen die heruntergefallenen Unterlagen aufzusammeln.
Sein Blick fiel kurz auf einen Block auf dem in zierlicher, ordentlicher Handschrift einige Sätze notiert waren.
Dann erhoben sie sich.
„Sorry! War keine Absicht...“, meinte er und sah sie an.
Zwei Strähnen ihres langen, dunklen Haares hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen ihr ins Gesicht, sodass er nicht viel davon erkennen konnte.
Mit gesenktem Kopf nickte sie schüchtern.
„Schon gut...“, antwortete sie mit heller, angenehmer Stimme, ihre Finger umklammerten den Stapel Unterlagen in ihren Händen.
Sie war sichtbar nervös.
Eine richtige kleine, graue Maus. Ayden musste unwillkürlich lächeln.
Er hielt ihr die Sachen hin und sie griff danach. Dabei berührten sich ihre Finger.
Für einen winzigen Augenblick hob sie den Kopf und ihre Blicke trafen sich...
Aufmerksame, braune Augen musterten ihn.
Im nächsten Moment hatte sie sich schon abgewandt und bevor er genauer hinsehen konnte, verschwand sie mit eiligen Schritten den Gang hinunter.
Erst als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte, bemerkte er, dass er ihr nachsah.
Entgeistert wandte er sich um.
„Wo bleibst du denn, Ayden! Wir müssen los! Soweit ich weiß wartet dein Chef nicht gern, oder?“, meinte der große, schlaksige Kerl vor ihm.
Es war Jens, ein guter Freund, der ebenfalls mitten im Studium steckte.
„Sag mal, wem starrst du da eigentlich hinterher?“, fragte der Rothaarige mit den Sommersprossen auf der Nase.
Seine munteren, hellblauen Augen suchten den Gang ab.
„Ich seh da nur graue Mäuse...“, kommentierte er achselzuckend.
„Genau!“, erwiderte Ayden, schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter und schob seinen Freund in Richtung Ausgang...
*
Ava lief schnell über den Flur in Richtung ihres Unterrichtsraumes.
Ihre Wangen glühten und ihr Puls raste. Man, war das wieder peinlich gewesen!
Das ausgerechnet sie mit diesem Typ zusammenrasseln musste.
Aber das ging schließlich auf seine Kappe! Er war so plötzlich aus der Tür getreten, dass sie ihn gar nicht so schnell bemerkt hatte.
Immerhin hatte er ihr zumindest beim Aufsammeln ihrer Sachen geholfen und sogar eine Entschuldigung über die Lippen gekriegt.
Eine äußerst seltene Angewohnheit bei solchen Typen, wie ihm.
Aber das konnte ihr egal sein! Sie hatte genug Erfahrungen mit Mias Erzeuger gesammelt.
Gerade solche sexy Typen waren doch die Schlimmsten! Solange sie einen in die Kiste kriegen wollten waren sie nett und aufmerksam. Aber kaum hatten sie bekommen was sie wollten, verwandelten sie sich mir nichts dir nichts in die absoluten Arschlöcher! Vom Prinzen zum Frosch sozusagen und so gar nicht märchenhaft.
Trotzdem musste sie, während sie den Flur entlang eilte den Impuls unterdrücken sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
Dabei war das wirklich dämlich! Es war nichts als ein zufälliger Zusammenprall gewesen, absolut peinlich noch dazu!
Aber diese Augen...
Ava zog, verärgert über sich selbst, die Stirn in Falten.
Na und? Er hatte auffällig schöne Augen, die sie an eine Sommerwiese erinnerten, aber was spielte das für eine Rolle?
Er war aus einem der Lesesäle gekommen, was auch zu seinem Aussehen passte. Also musste er Student und einige Jahre älter als sie sein.
Vermutlich würde sie ihn im Gewusel der vielen jungen Leute nie wieder sehen.
Und selbst wenn, solche Typen interessierten sich sowieso für die sexy Tussis mit ihrem perfekten Make-up und den hohen Schuhen. Mädchen, die in ihrer Liga spielten, wie man so schön sagte, möglichst unkompliziert und..., kinderlos waren!
Trotzdem, kaum hatte sie das Ende des Flurs erreicht, warf sie einen schnellen Blick über die Schulter zurück.
Aber natürlich war der Typ längst verschwunden.
*
Ava stand vor dem Badezimmerspiegel, betrachtete sich kritisch.
Noch immer konnte sie nicht fassen, wie sehr sich ihr Aussehen seit Mias Geburt verändert hatte.
Als Teenager war sie immer ziemlich pummelig gewesen. Wofür sie oft von anderen Jugendlichen in ihrem Alter gehänselt worden war.
Fette Kuh, war noch das Netteste, was sie ihr zugerufen hatten. Es hatte ihr weh getan und sie hatte sich für sich selbst geschämt. Sie hatte gewusst, dass sie viel zu viel naschte. Ständig hatte eine Schale Süßkram in ihrem Zimmer gestanden, angefüllt mit Kaubonbons, Gummitieren und Schokoladenriegeln, die sie sich von dem wenigen Taschengeld gekauft hatte.
Und jedes Mal, wenn ihre Mutter mal wieder ihre miese Laune an ihr ausgelassen hatte, war sie auf ihr Zimmer gegangen und hatte sich etwas Süßes in den Mund geschoben.
Der angenehme Geschmack hatte sie glücklich gemacht. Etwas, das sie in dieser Zeit nur sehr selten gewesen war...
Mit einer Mutter, die oft genug schon am Nachmittag eine Alkoholfahne hatte und ihr dann immer wieder gern zu verstehen gegeben hatte, dass ihr Leben ohne Ava viel einfacher und glücklicher verlaufen wäre, war das Leben nicht gerade einfach gewesen!
Für sie, die genau wie sie selbst bereits sehr früh Mutter geworden war, hatte sie Schuld daran, dass ihr Vater die kleine Familie verlassen hatte, nachdem Ava gerade fünf geworden war.
Und das ließ sie sie auch gern spüren.
Nicht selten hatte sie wegen irgendwelcher Nichtigkeiten eine schmerzhafte, schallende Ohrfeige kassiert. Einfach dafür, dass das Leben ihrer Mutter nicht so gelaufen war, wie die kühle, strenge Frau es gern gehabt hätte.
Avas Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. So vieles hatte sie als Kind vermisst.
Aber die Süßigkeiten, die hatte ihr niemand nehmen können...
Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild.
Endlich war diese schlimme Zeit vorbei! Sie war bei ihrer Mutter ausgezogen, hatte abgenommen, war mit Mia jeden Tag spazieren gegangen und hatte sich übers Internet Fitnessübungen gesucht, die sie machen konnte, indem sie ihre kleine Tochter mit einband.
Das hatte sogar richtig Spaß gemacht und nach und nach waren die überschüssigen Kilos gepurzelt.
Verdammt, sie konnte stolz sein auf das, was sie inzwischen erreicht hatte!
Noch einmal ließ sie ihren Blick über ihr Ebenbild im Spiegel gleiten.
Ihr langes, dunkles Haar fiel in großen Locken ihren Rücken herab. Die warmen, dunkelbraunen Augen hatte sie mit Kajal betont und die Wimpern schwarz mit verlängernder Maskara nachgetuscht, die Augenbrauen perfekt nachgezogen und die vollen Lippen, die einen kleinen, niedlichen Kussmund bildeten, in ein sattes Rot getaucht.
Etwas Make-up und Rouge auf den hohen Wangenknochen vervollständigten ihren Look.
Ava trug dazu ein Kostüm, das an die Schulmädchenuniformen der Internate erinnerte, allerdings um einiges knapper ausfiel.
Der marinefarbene Faltenrock reichte gerade so bis über ihren kleinen, runden Po und die weiße Bluse war mit einem tiefen V-Ausschnitt versehen, der von einem weißen Umschlagkragen eingerahmt wurde.
Dazu trug sie ein rotes Halstuch und weiße Overknees, die ihr zusätzlich etwas Mädchenhaftes verliehen.
Von allen Cosplay Kostümen, die Ava besaß, war die Schulmädchenuniform die beliebteste unter ihren Kunden.
Ava vermutete, dass es daran lag, dass diese sie besonders jung wirken ließ.
Aber das war ihr egal, nein, musste ihr egal sein.
Außerdem mochte sie dieses Kostüm selbst am Liebsten. Was vielleicht daran lag, dass sie Mangas liebte, egal ob die Hefte oder die Filme, sie konnte nicht genug davon bekommen!
Eine ihrer kleinen Macken...
Ava lächelte sich zu. Sie war fertig für den Kunden. Sie spürte das leichte Kribbeln in der Magengegend. Sie war, wie immer, ein wenig nervös. Der Typ, der sie nicht zum ersten Mal gebucht hatte, hatte etwas an sich, das ihr gefiel. Sie sah auf die Uhr. Allmählich wurde es Zeit.
Jetzt musste nur noch ihre Freundin eintrudeln, damit Mia versorgt war, bis sie wieder Heim kam...
*
„Hey, du kleine Püppi!“, Sandy trat ein und öffnete ihre Arme für eine überschwängliche Umarmung.
Sofort rannte Mia lachend auf sie zu. Avas Freundin zog das kleine Mädchen an sich und knuddelte es kräftig.
„Du bist so süß, du kleine Maus!“, meinte sie und gab Mia einen dicken Kuss auf die Wange.
Dann nahm sie die Kleine an der Hand und ging zu Ava hinüber, die im Wohnzimmer auf die Beiden wartete.
„Hallo, Süße!“, Ava umarmte ihre Freundin.
Das große, blonde Mädchen erwiderte die herzliche Begrüßung.
Ihre runden, lebhaften Augen musterten Ava prüfend.
„Wow, siehst du wieder sexy aus! Kein Wunder, dass das mit deinem Job läuft...“, grinste sie verschmitzt.
Ava lächelte verhalten.
Klar freute sie sich über das Kompliment zu ihrem Aussehen, aber das schlechte Gewissen Mia gegenüber konnte auch das nicht vertreiben.
Dieser Job war Mist! Jedenfalls, wenn man eigentlich eine kleine Tochter Zuhause sitzen hatte...
Aber, auf eine gewisse Weise gefiel ihr dieses Spiel mit dem Feuer auch!
Sie hätte es wohl nie offen zugegeben, aber sich sexy zurechtzumachen, die erregten Blicke der Männer auf sich zu spüren, gab ihr eben auch ein gutes Gefühl.
Es machte sie stolz und löste ein spezielles Kribbeln in ihr aus...
Schließlich hatte das Ganze auch eine gewisse Erotik. Wenn man bedachte, dass sie seit Avas Geburt keinen Typen und keinen Sex mehr gehabt hatte, war es vielleicht gar nicht so unverständlich, dass sie diesen Job auch irgendwie genoss. Genoss eine sexy Frau zu sein und die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zu ziehen...
Aber irgendwo zwickte dann doch das Gewissen.
Ganz besonders wenn sie spät nachts ans Bettchen ihrer kleinen Tochter trat und in dieses unschuldige, süße Gesichtchen blickte.
Sie konnte nur hoffen, dass sie irgendwann mit ihren Abschlüssen einen gut bezahlten Job finden würde, auf den sie stolz sein konnte und für den sie sich vor ihrer kleinen Tochter nicht schämen musste.
Aber jetzt sah die Realität eben anders aus!
Ihre kleine Tochter hatte sich auf der Couch an Sandy gekuschelt. Gott sei Dank hatten die Beiden einen super Draht zueinander.
Das half ihr sich nicht ständig Sorgen um Mia zu machen. Aber der traurige Blick der großen, grauen Kulleraugen entging ihr nicht.
„Welcher ist es heute Abend?“, fragte Sandy unvermittelt und riss sie aus ihren Gedanken.
Ava ließ sich zu den beiden Mädels auf die Couch sinken.
„Der Mysteriöse...“, grinste sie schelmisch.
Sandy und sie hatten sich ein paar alberne Spitznamen für ihre Kunden einfallen lassen, so konnten sie, auch wenn Mia dabeisaß, ungezwungen über die recht speziellen Typen reden...
„Also der, der den totalen Schulmädchen Cosplay Fetisch hat und dir Prinzessin ins Ohr flüstert...“, Sandy ließ ihren rechten Zeigefinger an ihrer Schläfe kreisen und verdrehte die Augen, woraufhin Ava und Mia in lautes Lachen ausbrachen.
„Genau der!“, bestätigte Ava, nachdem sie sich beruhigt hatte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Auch wenn sie über Sandys Geste lachte, tief in ihrem Inneren fühlte sie etwas Anderes.
Etwas, das sie faszinierte und gleichzeitig schaudern ließ, wenn sie an diesen merkwürdigen Mann dachte.
Ihre Freundin betrachtete sie ernsthaft.
„Ich weiß nicht, ob wir wirklich über diesen Kerl lachen sollten.“, meinte sie dann nachdenklich. „Ich meine der sagt dir, dass du ihm gehörst, will das du tust, was er sagt und solche Sachen...“, sie runzelte besorgt die Stirn.
Ava atmete tief durch. Sie kannte Sandys Bedenken und es rührte sie, dass sich ihre beste Freundin Gedanken um sie machte..., aber das war der falsche Zeitpunkt und außerdem...
Außerdem brauchte sie nun mal das Geld und dieser Typ bezahlte ungewöhnlich gut! Ganz davon abgesehen, dass es ihr gefiel sich vor ihm auszuziehen. Aber das blieb ihr Geheimnis!
„Er geht halt einfach ganz in seinen Fantasien auf..., solange er sich an die Regeln hält hab ich damit kein Problem!“
Doch da war noch etwas, das sie lieber verschwieg..., es gefiel ihr, dass er so auf sie fixiert war!
Auch wenn ihr manchmal selbst etwas mulmig in seiner Gegenwart wurde.
„Sag mal musst du nicht langsam los? Soweit ich weiß legt er doch Wert auf absolute Pünktlichkeit, oder?“, meinte Sandy und deutete mit dem Finger auf die Wanduhr, die inzwischen zehn vor neun anzeigte...
Ava sprang wie von der Tarantel gestochen auf.
„Verdammt! Schon so spät!“, sie beugte sich hastig zu Mia herab, die ihre kleinen Arme nach ihr ausstreckte.
Liebevoll umarmte sie ihre kleine Tochter und gab ihr einen sanften Kuss auf den Mund.
„Mach´s gut, mein Spatz und lass dich artig von Sandy ins Bett bringen“, meinte sie lächelnd, dann löste sie sich aus Mias Umarmung und drückte ihre Freundin noch schnell.
„Also dann..., gegen halb eins bin ich wieder zurück“, rief sie noch, während sie schon zur Tür rannte.
„Tschüss, Mami...“, hörte sie noch Mias helles Stimmchen, dann war sie auf dem Flur und stakste ein wenig unbeholfen die Treppe runter.
Die Rockmusik im Autoradio löste ihre Anspannung etwas.
Sie würde eindeutig zu spät kommen! So ein Mist! Hoffentlich würde er deswegen nicht den Preis mindern, den sie vereinbart hatten.
Gerade jetzt standen einige wichtige und vor allem große Ausgaben an!
Die Kita musste bezahlt werden, sie brauchten dringend eine neue Waschmaschine, denn die alte bekam die Klamotten seit einiger Zeit aus irgendeinem Grund nicht mehr sauber..., und dann war da auch noch Mias großer Wunsch als Prinzessin zum Fasching zu gehen.
Ava seufzte.
Drehte das Radio noch etwas lauter, in dem jetzt ihr Lieblingssong von Linkin Park begann. Und ganz allmählich veränderte sich etwas in ihr. So, wie jedes Mal, wenn sie auf dem Weg zu ihren Kunden war...
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